Tagebuch (Auszüge)

Montag, 8. März

Minus 20 Grad. Das Licht fällt in breiten Streifen über Land und Meer. Wenn ich hinaus schaue, scheint das gefrorene Meer mitsamt all seiner eingeschlossenen Eisberge, als würde es die nächsten tausend Jahre so bleiben wie es ist. Ein ewig schönes Bild. Doch aus den Spalten im Eis steigt der Atem. Die Felsen hier sind die zerklüfteten Brauen eines gewaltigen Lebewesens. Nachts wälzt es sich hin und her. Die Stadt ruht auf dem schwankenden Körper und lässt sich in den Schlaf wiegen. Nur die Hunde bekommen alles mit und heben ihre Schnauzen und heulen. Manchmal, wenn ich mitten in der Nacht erwache, scheint es mir, dass ein anderes fernes Heulen den Hunden hier im Ort antwortet. Nur die Hunde am Rande der Stadt? Oder die Wölfe, die wilden Verwandten der Grönlandhunde.

Die erstarrte Welt hat sich in der Nacht wieder einmal heimlich bewegt. Wo gestern noch eine eisige Ruine ihre gebrochenen Türme und Zacken in den Sonnenuntergang streckte, liegt heute breit und einladend ein Koloss von einem Eisberg, den ich vorher nur in weiter Ferne erahnen konnte.

18:00 Uhr. Ein Hundeschlitten! Ich blicke von meiner Arbeit auf und sehe ihn. Gerade im letzten Augenblick, bevor er hinter den Felsen einer kleinen Bucht verschwindet. Vier oder fünf Hunde.

Ist das der Anfang? Den dritten Winter ist es hier schon zu warm. Letztes Jahr konnten die Jäger ihre Hundeschlitten nur von Ende Februar bis Ende März benutzen. Dieses Jahr noch kein einziges Mal. In den nördlichen Siedlungen reichen die Minusgrade noch aus, um das Meer mit festem Eis zu überziehen. Sie liegen näher am Festland. Dort wirken sich die Gezeiten nicht so stark aus und das Meer liegt ruhig da, bereit, sich in festes Eis zu verwandeln. Upernavik ist eine der letzten Inseln vorm offenen Meer. Hier reißt die Strömung das Eis immer wieder auf. Noch vor vier Jahren war die Kälte stärker als die Strömung. Mindestens einen Meter fror das Meer durch. Minus 30 Grad im März war eine Selbstverständlichkeit. Hier kann ich miterleben, wie rasant sich das Klima wandelt.

Die Jäger, die Eisbären, die Robben und die Hunde, sie alle werden von der Geschwindigkeit der Veränderungen überrollt.

Dienstag, 9. März

Schade. Weg sind sie, die Welpen. Kaum gesehen, schon fort. Sie sind auf dem Weg zu ihrer Mutter, da rennen sie.

Die Aufregung der Hunde nebenan hat gute Gründe. Der Jäger und Sohn kommen heraus und binden ausgewählten Tieren das Geschirr um. Die Ruten tanzen nur so vor Begeisterung. Doch drei Hunde werden nicht mitgenommen. In seiner Verzweiflung rennt eines der Tiere wieder und wieder im Kreis herum. Eine ganze Stunde lang.

Die Hunde sind kaum zu bändigen. Die letzten Meter aufs Meereis springen sie ungestüm – da hilft auch kein energisches „Hoo“ mehr. Der Sohn läuft neben den Hunden her und versucht sie in die richtige Richtung zu lenken. Der Vater setzt sich zuerst auf den Schlitten, dann springt der Junge auf und die Hunde rennen und rennen.

Ich sitze auf dem Arbeitstisch bei angelehntem Fenster und schreibe – mit Handschuhen. Vorhin musste ich eine Pause machen. Die Farbe im Kugelschreiber war eingefroren.

Manchmal komme ich mir vor wie einer der jungen Hunde. Sobald die anderen Hunde anfangen zu heulen, stürze ich zum Fenster. Was ist los? Was gibt es zu sehen? Die Jäger? Fütterungszeit? Oder war es nur eine aufgeregte Unterhaltung mit den anderen Hunden des Ortes?

Mittwoch 10. März

9.00 Uhr: Minus 21 Grad. Nebel und Eis, Weiß auf Weiß. Beim Aufwachen dachte ich erst, es läge daran, dass ich meine Brille noch nicht auf der Nase hatte. In einer Stunde geh ich los in die Schule.

Ich habe eine neues Wort gelernt: Alianaak – wirklich tief empfunden schön, so dass es glücklich macht. Anders als das leichte spielerische Nuann. Das heißt einfach schön, nett.